29.Jan.2023

Ins Licht

Wenn die lebendige Materie wieder zurück zum Ursprung geht, wenn sich die Seele vom Körper am Ende ihres irdischen Lebens befreit, ist es für die Verbliebenen, Freunde, Verwandten nicht immer leicht, nicht immer verständlich. 

Es war ein kalter Wintertag, irgendwann im Januar,  an einem frühen Nachmittag, an dem die Sonne verlegen ihr Gesicht zeigte, halbverdeckt durch graublaue Regenwolken. Als ob sie noch ein letztes Mal auf diesen kleinen Abstrich der Erde schauen wollte, als ob sie die Richtigkeit der Zeremonie überprüfen wollte, bevor ihre Existenz für jenen Tag scheinbar endgültig vergeht.  

Beerdigung

An jenem Tag ging eine schwarze Kolonne hinter einem schwarzen Wagen, hinter einem roten Banner, hinter zwei schwarzen Bannern und einem weißen Priester, eine der breiteren Gassen des kommunalen Friedhofs entlang, in eigenen Gedanken versunken und still. Es war keine der Situationen, an denen man zu reden vermochte, eher verlor sich die eine oder andere Träne wenn die Erinnerung an die vergangenen Tage, Monate, Jahre mit voller Wucht vor geistigem Auge erschien. 

Ein kurzer Weg war es, vielleicht wenige Minuten lang und bald stand die Gemeinde in einem Kreis am blauen Zelt versammelt. Gelegentlich löste sich jemand aus der zufällig zugeteilten Reihe und legte einen Blumenstrauß, einen Kranz, eine Rose unter das Zelt. 

Eine dunkel-meerblaue, glänzende Urne war die Königin der Zeremonie, die mittig im Zelt über einem Loch auf vier Seilen balancierte und deren Anwesenheit die Sonne nur ahnte, die Kolonne wahrnahm, die Familie und der Priester augenscheinlich bezeugten. 

Was niemand sah, die Sonne jedoch vernahm, waren zwei Lichtwesen, zwei Seelen die neben dem Zelt standen, der Urne anscheinend zugehörig, vertieft in ein Halbgespräch, einen Halbgedankenaustausch. 

Gespräch im Jenseits

„Es war mir nicht bewusst, dass so viele Menschen mich auf diesem Weg begleiten werden.” Sprach die jüngere und schaute erstaunt über die Menschenmenge. „Eine Staatsbeerdigung beinahe…” fügte sie hinzu. Ihre Farbe verdunkelte sich, sie dachte nach. 

„Beurteile dich nicht, mein Kind; Wie wir das irdische Leben verbringen, hängt mit sehr vielen Gedanken, Handlungen und Emotionen unserer Mitmenschen zusammen und damit, welche Bedeutung sie für uns selbst tatsächlich auch haben”. Das junge Licht schaute verdutzt und etwas verschämt zu seiner Begleiterin. „Auf dieser Ebene können wir gegenseitig unsere Gedanken hören. Sie sind wie die Radiowellen, die jeder hier ohne Störungen empfangen kann. Auch die Gedanken der Menschen auf der Erde können wir einwandfrei als Schwingung wahrnehmen, die Wünsche und Absichten wie leuchtende Funken in deren Aura oder die Gefühle im Form von Farben. Sowie deine Aura sich gerade verdunkelt hat, weil dich die traurigen Gedanken eingefangen haben.”

„Was sind wir?” verzweifelt schaute das junge Licht um sich herum. Noch vor einer Woche sah die Welt ganz anders aus. In seinem männlichen Körper war es zwar eng, aber alles fühlte sich greifbar und echt an. 

„Du bist das Licht, eine Seele, die vor wenigen Tagen ihr irdisches Wohnhaus verlassen hat.” Entgegnete das ältere Lichtwesen. „Du hast die Reise in dieser materiellen Welt bereits beendet. Aber bevor es für Dich weitergeht, gibt es noch einiges zu erledigen. Doch dies wirst du zum richtigen Zeitpunkt erfahren.” 

Genau in diesem Moment ertönte die Stimme des Priesters: „aus Staub bist du auferstanden und zu Staub bist du geworden”, als hätten die Menschen das Gespräch von jenseits gehört. Das ältere Wesen wusste bereits, hier, jenseits passiert nichts zufällig. Und auf der Erde auch nicht. Doch diese essentielle Wahrheit sind die Menschen noch nicht bereit, anzunehmen. Es würde nämlich bedeuten, dass sie auch Verantwortung für eigene Gedanken und Taten übernehmen müssten. 

Wer Augen hat, der sehe. Wer Ohren hat, der höre!

„Na, Vater, staunst du?!” Kam eine Gedankenwelle gleichzeitig bei beiden Seelen an, „hättest du nicht gedacht, dass so viele Menschen kommen?!”. Die Jüngere schaute die Ältere fragend an. „Es gibt wenige Menschen drüben, mein Kind, die uns sehen, hören oder fühlen können. Eigentlich könnten es alle, doch sie vergessen im Laufe der ersten Lebensjahre diese natürlichen Fähigkeiten. Denn je länger die Menschen leben, desto fester versperren sie ihre Augen, Ohren und ihr Herz. Durch Erfahrungen, welche sie nicht richtig deuten können und durch Angst vor Enttäuschungen und Verletzungen. Aber diese eine, deine Tochter, sie sieht uns. Du kannst mit ihr sprechen, wenn du möchtest.” 

Die Tochter schaute in die Richtung der Seelen und lächelte sie leicht an. „Ich freue mich, dass du gekommen bist, Oma. Er wollte bei Euch beerdigt werden. Eigentlich wollte ich ihn zu uns nach Hause mitnehmen, doch er wollte zu seinen Eltern, er wollte bei euch liegen.” 

In der Ferne erklang die schluchzende Melodie einer Trompete, jemand las ein Gedicht vor, der Priester betete seine Predigt. Die versammelte Gemeinde versank in andächtiger Stimmung, spürbar berührt, jeder in seiner eigenen ganz persönlichen Trauer. Die Stille unterbrach eine weibliche Stimme. „Bevor du über mich oder mein Leben urteilen willst, zieh meine Schuhe an und laufe meinen Weg.” Es war seine Tochter. Sie sprach langsam in ein schwarzes Mikrofon, die Deutlichkeit der einzelnen Worte drang durch die Stille und haftete im Bewusstsein jedes anwesenden Wesens wie eine Wasserperle auf einer Glasfläche. Sie sah aus, wie eine im Sonnenlicht schimmernde Säule, umhüllt in einem langen weiß – rosa – indgo – farbenen Mantel aus Glitzer, Funken und Geflimmer. „Gehe dieselben Straßen, Berge und Täler, die ich ging. Fühle die Trauer, erlebe den Schmerz und die Freude, die ich gefühlt und erlebt habe. Stolpere über jeden Stein, über den ich gestolpert bin, dann stehe immer wieder auf und gehe genau die selbe Strecke weiter, genau wie ich es tat. Durchlebe all die Jahre, auf die selbe Art und Weise wie ich es getan habe und erst dann, wenn du noch in der Lage bist, urteile über mich…”

Lebensschule

Während die Tochter sprach, sank die junge Seele in sich zusammen. Sie schaute auf ihr Leben zurück und dachte nach. Zweiundsiebzig Jahre lang war sie auf dieser Erde, ging durch die Berge und Täler ihres Lebens… „Meine Eltern…” sie sah die alte Seele neben sich stehen, aus derer Mitte ein changierender rosa Strahl in ihre Richtung zurückfloß. Es war die Liebe, die sie in der materiellen Welt so nicht habe erfahren können. Aber auch sie selbst hatte nie wirklich lieben gelernt… 

Am Rande nur bekam sie die Worte der Rede mit. „… willigen wir der Entwicklung ein. Wir kommen hier an, stellen uns verschiedenen Lektionen an, die uns auf die nächste Stufe des Bewusstseins führen sollen. Diese Welt, unser Leben, ist wie eine Schule –  viele beenden die Grundschule, manche Gymnasium, nur wenige promovieren oder ….” Schon wieder versank das junge Wesen in eigenen Erinnerungen. „Es gab so viel, was ich in meinem Leben geschafft habe, aber sehr viel, was ich auch nicht geschafft habe. Ich habe vieles einfach nicht gesehen, weil ich es nicht gelernt habe zu sehen,” richtete sie an ihre Begleiterin. „Und jetzt stehe ich hier, an meinem eigenem Grab und ziehe ein Resümee vor mir selber…” 

„Wir erfahren und durchstehen Situationen,” kam wieder von der anderen Seite an. „Verhaltensweisen, Wörter, die in jenem Moment unverständlich zu schein mögen, manchmal sogar verletzend – doch genau diese Erfahrungen sind die kostbarsten von allen, denn sie erlauben uns, die Perspektive auf uns selbst zu verändern. Seht also von Urteilen ab, die ihr über andere, aber auch für euch selbst fällt. Bewertet weder die Taten anderer, noch eure eigenen. Seid geduldig und gnädig mit- und füreinander. Es ist nicht mehr wichtig, was man in einer Situation, zu einem Menschen hätte machen oder sagen sollen oder was man nicht hätte machen oder sagen sollen. In jedem Moment des Leben versucht jeder von uns das Beste zu geben.” 

„Aber das habe ich nicht!!!” Schrie das junge Wesen zu seiner Begleiterin verzweifelt. „Ich dachte, es wäre so! Ich bin so ein Narr gewesen! Ein herzloser, sturer Narr! Ich dachte immer, ich habe recht, weil ich alles durchdacht und logisch analysiert habe…” sein materienloser Körper verdunkelte sich wieder, ein Zeichen der Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. Dies war ein natürlicher Prozess einer Seele, die gerade ihre irdische Hülle verlassen hat und eine Resümee zieht… „Du hast es nur so gut gemacht, wie du eben in jenen Momenten konntest.” Die alte Seele schloß tröstend die junge Seele in ihren Armen, so wie es eben in ihrer Dimension möglich war. Ihre ätherartigen Energien den Beiden schmolzen in einer allumfassenden Verbindung miteinander und mit all dem um sie herum, was materiell und immateriell ist. „Bevor wir auf der Erde inkarnieren, wählen wir verschiedenen Aufgaben für das Leben aus. Manche erledigen wir bravurös, einige müssen wir wiederholen. Manchmal im gleichen Leben, wie eine unendliche Schleife, bis wir es verstanden haben. Doch oft benötigen wir ein weiteres Leben, eine weitere Inkarnation,” klärte die alte Seele weiter auf. 

„Doch nicht in unserer Macht liegt zu urteilen,” hallte es in diesem Moment aus dem Mikrofon. „Denn bevor du dir einen Urteil über jemanden erlaubst, zieh seine Schuhe an und gehe seinen Weg.” Wieder herrschte Stille. Die Tochter schaute nacheinander in die Gesichter der versammelten Menschen. Sie schaute auch in die zwei Gesichter der Seelen und sprach den letzten Satz: „Wie man bei uns sagt: Man sieht sich! Also, wir sehen uns Vater! Mann! Opa! Freund! Auf Wiedersehen im jenseits!”

Anah Elia von Stern

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